Die Kinderfrage

„… aber vorne an der Kreuzung bleibst du stehen!“ höre ich noch, als mal wieder jemand von der Roller-Fraktion der 1m-Klasse an mir vorbei rauscht. Stolz wie Oskar und Marke oberknuffig. An der Kreuzung angekommen steht da schon ein Rollerfahrer mit seiner Mama und spielt das erst-gucken-dann-gehen Spiel. Die Kinder sind hier selten alleine, denn wir leben in Hamburg-Eimsbüttel, und dort mag man einfach nicht glauben, dass die Geburtenrate in Deutschland besorgniserregend zurück geht. Man kommt sich genau genommen komisch vor, wenn man keinen Kinderwagen vor sich her schiebt. Hier gibt es an jeder Ecke eine Kita, Spielplätze, und Kinder und Schwangere wohin man nur guckt. Ich finde das herrlich und mag auch deswegen diesen Stadtteil so gerne. Es macht ihn so lebendig, und positiv. Und es gibt genug Kneipen, Cafés, und Restaurants drumherum. Es gibt sogar ein Café mit Spielecke, wo die Kinderwagen in langer Reihe parken.

Man kommt hier also kaum und im Leben auf der Zielgeraden der 30er schon gar nicht um die Frage herum, ob man sich nun endlich mit in das Getümmel schmeißen möchte. Bei mir fällt nun beides zusammen: Eimsbüttel und das Alter.

Ich war nie der Kindertyp. Auf meiner Agenda stand nicht das Trio (Heiraten-Kinder-Haus) was für viele andere klar war. Das war nie ein formuliertes oder gedachtes Lebensziel. Ich habe genau genommen nie über die nächsten 2 Jahre meines Lebens hinaus geplant. Ich wollte studieren, arbeiten, noch mal (das richtige) studieren, im Ausland leben, promovieren, Traumjob finden,… all das habe ich gemacht und auf dem Weg sogar einen Mann für mich gefunden.

Die Babysache, das war immer was für die anderen, und ich habe fasziniert zugesehen. Habe Babies und ihre Mütter besucht, Einweihungsparties mitgefeiert, und nie gedacht: Das möchte ich auch! Eigentlich fand ich es anstrengend und war froh wenn ich wieder fahren konnte.

Bis ich nun da saß, eine der ganz wenigen Frauen in meiner Umgebung, meinem Freundeskreis und meiner Familie im vergleichbaren Alter ohne Nachwuchs. Sogar die ganz späten hatten die Kurve gekriegt.

In meiner Wahrnehmung gibt es folgende Mütter-Kategorien: Die „Normalos“ – erste Kinder mit 26+, die „Späten“ – erste Kinder mit 32+, und die „ganz Späten“ – erste Kinder mit 36+. (alles mit fließendem Übergang und anhaltender Verschiebung der Grenzen nach hinten).

Nun gehöre ich zu der Klasse ganz spät mit dem nahen Ziel vor Augen: „fast zu spät“.

Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie viel soziale Norm darin steckt einen Kinderwunsch zu entwickeln. Es ist das allgemein anerkannte höchste Gut, das wichtigste der Welt. Es macht alles andere irrelevant und relativiert vieles. Man braucht es für sein Lebensglück. Nichts gibt einem mehr ein Gefühl gebraucht werden – und von bedingungsloser Liebe. Die Liebe eines Kindes ist ohne Risiko verlassen zu werden. Alles davor war nur der Weg dahin. Ohne das wird man nie richtig erwachsen und es entgeht einem ein ganz wichtiger Aspekt des Lebens: Das Elternsein.

So wird es beschrieben, das Kinder haben… Das scheint eines der unumstößlichen Wahrheiten in dieser Welt zu sein.

Doch sind wir nicht alle verschiedene Menschen? Müssen wir alle das tun, was wir eine gute Sache finden? Kann man etwas schön finden – Kinder sind toll! – ohne eins zu Hause zu haben? Ich finde es so schön, wenn Menschen viele Kinder haben, und gemeinsam viele chaotische und intensive Jahre erleben. Kann ich das nicht ganz, ganz schön finden und alleine glücklich mit meinem Mann bleiben?

Wie unendlich schwer fällt es herauszuarbeiten, ob man wirklich ganz persönlich für sich ein Kind möchte. Wer überprüft das überhaupt wirklich für sich? Ist die Entscheidung so klar? Möchte man vielleicht nur dazu gehören, ein „normales“ erwachsenes Leben führen? Oder hat man einfach keinen Mut das kinderlose Dasein wirklich durchzuhalten, aus Angst davor „draußen zu bleiben“ – oder vor den eigenen Gedanken in 10 oder 20 Jahren – wenn es zu spät ist?

An einem Spätsommerabend im letzten Jahr habe ich meinen Mann angesehen. Ich habe bisher das Leben so sehr genossen, meine Individualität ausleben können, mich nur um mich kümmern dürfen. Vielleicht ist jetzt mal jemand anderes dran. Und wie spannend das sein kann, einen Mensch beim erwachsen werden zu begleiten, und wenn er noch eine Kombination aus uns beiden wird, wie wunderbar! Ich liebe ihn und der Mann ist der richtige. Vielleicht war es nicht das Problem, dass es nichts für mich ist, sondern dass ich kein Vertrauen hatte. Vielleicht habe ich es mir einfach nie zugestanden auch das zu wollen: Kinder, Familienglück.

Ich möchte ein Kind von dir! Und er sagt: Einverstanden.

Es war eine Bauchentscheidung die sich richtig angefühlt hat, und mich glücklich gemacht hat. Endlich habe ich es mir erlaubt auch ein Kind zu wollen. Und dann wurde meine Kollegin schwanger, und meine andere Kollegin schwanger. Beide Vertreter der Klasse „Normalos“. Und einige Zeit später passierte etwas wunderbares in der Klasse „fast zu spät“: Meine älteste und beste Freundin, leider viele Kilometer weit weg, schreibt mir dass sie schwanger ist, und ich halte einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Wie unwahrscheinlich, wie wunderbar! Wir alten Mädels.

Und es kam noch besser: Es deuteten sich Zwillinge an und das passt so wunderbar zu mir! Wenn ich etwas mache dann auch richtig, und im Zweifel gibt es für mich den schwereren Weg als normal. Auch die Konsequenz mit der sich nun das Babythema ankündigte, tat mir gut! Keine Kompromisse, nun auch richtig! Ich war so unglaublich glücklich. Gleich zwei, eine richtige Familie! Bei einem Kind wäre die Wahrscheinlichkeit doch groß geworden, dass es ein Einzelkind geblieben wäre.

Dann kam der zweite Ultraschall – ein Kind entwickelte sich nicht weiter. Es war nur noch eins. Dies war so traurig und ich glaube seit diesem Tag war ich nicht mehr so glücklich wie davor. Es war so falsch.

Dann gab es ein Familienfest und als Überraschung meinen Mutterpass zum Kuchen! Wie sehr sich die Anwärter-Omis gefreut haben. Meine Mutter hat sich gleich eine eingescannt-und-wieder-ausgedruckte Version des Ultraschall-Bilds ins Portemonnaie gepackt. 

So war es also auf der anderen Seite des Zauns. So oft rüber geschaut, doch nun war ich „die Schwangere“ – verrückt.

Dann kam eine harte Phase, denn es ging mir gar nicht gut. Schlecht, deprimiert, und zu nichts fähig. Ich war so gedämpft, ich war nicht ich selbst. Warum freue ich mich nicht? Warum nur die Ängste? Ich hatte so Angst davor was kommt. Bleibt das Kind gesund, bleibe ich gesund? Die ersten Monate sind hart, hörte ich, ganz normal – das wird wieder.

Dann kam die Katastrophe – der dritte Ultraschall – und keine Herztöne. Vorbei.

Ja, hörte ich eine innere Stimme, wir haben dich mal kurz hierüber gelassen, aber nun ist auch gut – zurück mit dir auf die andere Seite des Zauns!

Ich war alleine, traurig und brauchte Wochen um mich von allem zu erholen…

Heute habe ich noch einen Mutterpass und Ultraschallbilder, sicher verstaut. Alles andere ist zu einer Erinnerung geworden und nur noch manchmal bin ich traurig. Ich habe Stück für Stück zurück in mein Leben gefunden. Ich bin wieder ich selbst und habe gelernt: Mutter zu werden braucht verdammt viel Mut! Und ich weiß nicht ob ich diesen Mut jemals wieder aufbringen werde. Ich konnte durch ein Schlüsselloch sehen und auch ganz konkret an mir selbst viel Sorge, Angst, und Verantwortung erahnen.

Der knuffige Keks auf dem Roller grinst mich an und ein piepsen reißt mich an der Kreuzung in Eimsbüttel aus den Gedanken. Eine Nachricht von meiner besten Freundin „Babybauch wächst!“ und ein Foto im Seitenprofil. Ich lächle und freue mich auf das Baby. Ich bin wieder zurück in meinem safe place. Hier kenne ich mich aus. Ich gehe wieder ganz in meinem Job auf, mein Mann und ich haben wieder unseren Rhythmus der Pre-Babyphase gefunden, und schauen zu wie andere Eltern werden.

Aber einiges hat sich doch verändert. Ich bin Bloggerin, Teilzeit-Veganerin und ich freue mich so sehr auf die Babies und über die Babies der Lieben um mich herum wie noch nie. Ich  möchte einfach nur Teil haben an ihrem Leben und gleichzeitig das tun was ich liebe. „Piep, piep.“ Nachricht von meiner Nichte: „Mama hat Flug gebucht! Freu mich voll auf die Ferien bei dir! HDGDL!!!! Bussiiii“ Ich glaube, die Tante zu sein ist gar keine schlechte Rolle.

Nun lassen wir uns einfach noch mehr Zeit. Und ich habe fast den Mut dazu zu stehen, kinderlos glücklich zu sein.

Wie schön dass es euch gibt!

Eure Lina

17 Gedanken zu “Die Kinderfrage

  1. Fettnapftante schreibt:

    Liebe Lina,
    das ist ein sehr emotionaler Beitrag. Danke für die Einblicke in deine Seele. Auch ich wünsche dir alles erdenklich Liebe und Gute.

    Ich bin eine 18+ Mutter. Sohn Nummer 1, kam 17 Tage vor meinem 19. Geburtstag. Ich befand mich mitten in der Ausbildung, die ich auch abschloss. Bei Sohn Nummer 2, war ich 23.

    Jetzt sind beide erwachsen und ich genieße die Zeit und Ruhe die ich nie hatte.
    Liebe Grüße Chrissi

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    • Danke dir, liebe Chrissi. Wow, was für ein Leben! Ich würde ja gerne mehr erfahren, wie das für dich war und wie du alles gemeistert hast. Hab nun ein tolles Leben ganz für dich; und manchmal mit deinen erwachsenen Kindern! : )

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      • Fettnapftante schreibt:

        Danke dir. Mein Leben war alles andere als normal. Immer was los… Steinig, unbequem aber jetzt Ernte ich von den anderen Früchten. 😀

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  2. Ein sehr tiefgehender Beitrag, ich kann nur in Ansätzen erahnen, was du erlebt, gefühlt und durchgemacht hast. Dadurch verändert sich sich einiges, vor allem der Blick auf sich selbst? Ich bewundere deinen Mut – und mag die letzten beiden Zeile immer und immer wieder lesen. Alles Liebe, Doris

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  3. Liebe Lina,
    dein Beitrag hat mich so berührt.
    Ich bewundere dich, dass du solch eine Kraft und solch einen Mut hast, offen über deine Empfinden zu schreiben.
    Ich wünsche euch von Herzen für die Zukunft alles Gute.
    Was immer die Zeit euch bringen wird, ihr werdet es meistern!
    Liebe Grüße, Anna

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  4. Jules79 schreibt:

    Liebe Lina,
    ein ganz toller emotionaler Beitrag! Du bist sehr mutig, so offen über dieses Thema zu sprechen. Heutzutage wird ja überall vorausgesetzt, dass man ab spätestens Mitte 30, wenn man den passenden Mann hat, auch Kinder bekommt. Und wenn man schon Kinder hat, erhält man oft Unverständnis, wenn man kein 2. oder 3. Kind möchte.

    Ich finde deine Geschichte unheimlich traurig und wünsche dir die Kraft dich für einen Weg zu entscheiden. Entweder den Mut zur Kinderlosigkeit zu stehen oder den Willen da noch einmal zu probieren. Aber lass dich von niemandem beeinflussen, dies ist alleine dein Weg.

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  5. Liebe Lina,
    erst heute stolpere ich über deinen Beitrag und ich kann nur sagen: Respekt!
    Respekt bezüglich deiner nach außen gekehrten Seele, Respekt gegenüber deiner Wahrheit und deinem „Jederzeit-zu-dir-selbst-Stehen“ und Respekt vor deiner Nicht-Verbitterung!

    Dass du nach dem Einlassen und dem großen Verlust dich immer noch über die Kinder anderer freuen kannst, davor ziehe ich den Hut und verneige mich wirklich tief. Wie oft quälte mich der Neid? Dieses Zu-sich-Stehen und Nicht-nach-dem-Weg-der-anderen-Schielen kann ich kaum fassen! Mir brach die Konfrontation mit dem Kinderglück anderer manchmal das Herz. Es wird weniger, weil mein steiniger Weg eventuell auch noch glücklich ausgehen wird, doch ganz frei bin ich von diesen Gefühlen auch heute noch nicht. Also, es muss unheimlich viel gesunde Selbstliebe in dir stecken. Das ist wunderbar und es gibt keinen besseren Hafen als diesen für jeden Weg, den du einschlagen wirst – egal welcher das sein wird.

    Alles, alles Gute für dich und herzliche Grüße!
    Kosmee

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    • Liebe Kosmee,
      vielen lieben Dank für deine berührenden Zeilen! Der Beitrag kam tief aus meinem Herzen, da tut es so gut… Ich danke dir fürs verstehen und die Worte!
      Liebe Grüße. Lina

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  6. Ich bewundere Deinen Umgang mit diesem großen Schicksalsschlag. Du hast so wunderbar über Kinder geschrieben, dass ich glaube, Du kannst für jedes Kind eine liebevolle Bezugsperson sein und ihm Geborgenheit geben, wenn Du möchtest. Auch ich war eine späte Mutter und es hätte auch so kommen können, dass ich den Zeitpunkt verpasst hätte und eben kinderlos geblieben wäre. Aber auch ich habe immer gedacht, selbst, wenn ich kein eigenes Kind bekomme, da draußen laufen so viele Kinder herum, die glücklich sind, wenn jemand ihnen Aufmerksamkeit schenkt, für sie da ist und sie liebt. Ich sehe es damit genauso wie Du. Kinder können auf jeden Fall zu Deinem Leben gehören, wenn Du sie lässt, egal ob es Deine eigenen sind oder von jemand anderem. Die Welt ist voller Kinder, die mehr Liebe benötigen als sie bekommen.

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    • Liebe Mara, vielen Dank für deine Zeilen, fürs lesen und verstehen. Dieser Beitrag ist vielleicht mein wichtigster, das was den ganzen Blog für mich ausmacht… und es tut so gut zu lesen was du geschrieben hast. Danke! Liebe Grüße, Lina

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      • Liebe Lina, Du hast so liebevoll über Kinder geschrieben und Du hast das Wichtigste verstanden: Auch sein eigenes Kind besitzt man nicht. So wie man keinen Menschen besitzen kann und mit dieser Lebenseinstellung „besitzt“ Du mehr als die meisten Menschen. Alles Liebe „Mara“

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